Rückblick
«Jedem Verdurstenden erscheint Ertrinken als verlockende Alternative.»
(Kathrin Bärbock, deutsche Regionalphilosophin)
Kennen Sie Tina? Keine Angst, es handelt sich weder um die zukünftige Präsidentin der Vereinigten Staaten, noch um die Hauptdarstellerin in der aktuellsten Doku-Soap. Tina ist das Akronym für «There is no alternative» – es gibt keine Alternative. Obwohl der Begriff dem englischen Philosophen Herbert Spencer zuzuschreiben ist, hat ihn erst die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher bekannt gemacht: Für sie gab es keine Alternative zur Marktwirtschaft.
Tina ist das neue Schlagwort der Anleger. Es gibt keine Alternative zu Aktien. Doch wenn immer es neue Schlagwörter, Paradigmen und gebetsmühlenartig wiederholte Mantras ins Vokabular der Finanzwelt geschafft hatten, war Vorsicht geboten. Je geheimnisvoller die Konstruktion der Aktienfonds in den 30er-Jahren, je grösser der Silbersqueeze der Gebrüder Hunt in den 80er-Jahren, je innovativer die Spekulations- und Absicherungsinstrumente im Jahr 1987, je enger der Bezug eines Unternehmens zum Internet während der Dot-Com-Blase, und je abstruser die Konstruktion von Hypothekenverbriefungen in der letzten Finanzkrise, desto mächtiger war der Drang der Anleger, auf der jeweiligen Spekulationswelle mitzureiten.
Im abgelaufenen Quartal wurden die traditionellen Obligationenanleger von den Zentralbanken aus den Märkten verdrängt. Diese eher konservativen Anleger suchten ihr neues Heil in den Aktienmärkten, weil es dort noch ein regelmässiges Einkommen in Form von Dividenden zu verdienen gab. In der Folge kamen die meisten Anleihenindizes kaum noch vom Fleck, während Aktien ihre Erholung fortsetzten. Aktien waren eine gewinnbringende Alternative zu Anleihen, deren Verfallrenditen negativ waren oder nur gerade knapp über dem Nullpunkt lagen.
Früher kauften Anleger Anleihen, die ein stetiges Einkommen lieferten, weil sie gut schlafen wollten. Sie verzichteten bewusst auf einen Kapitalgewinn. Heute erwerben die gleichen Anleger Aktien mit stetigem Dividendeneinkommen, und sie halten Anleihen mit einer negativen Verzinsung nur noch, weil sie auf einen Kapitalgewinn hoffen. Aktien werden zurzeit sowohl von risikofreudigen als auch von risikoscheuen Investoren gekauft, denn für sie gibt es keine Alternative – eben Tina.
Ausblick
«Nicht die Sucht bekämpfen, sondern die Alternative leben!»
(Ute Lauterbach, deutsche Autorin)
Eine Grundvoraussetzung für das Funktionieren der Modernen Portfoliotheorie – für die Harry Markowitz im Jahr 1990 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt – war das Halten von Alternativen im Wertschriftendepot: Alternativen mit unterschiedlichen, sich gegenseitig ausgleichenden Preisentwicklungen sollten die Stabilität des Portfolios garantieren und eine langfristige Wertzunahme sichern.
Was in den 90er-Jahren Gültigkeit hatte, obwohl es auf Daten früherer Dekaden basierte, verlor wegen der zunehmenden Vernetzung der internationalen Finanzmärkte Schritt für Schritt an Aussagekraft. Denn seit dem Platzen der Internetblase im Frühjahr 2000, und erst recht seit dem Ausbruch der Finanzkrise vor acht Jahren, nahm die Korrelation (Gleichläufigkeit der Preisentwicklung) der verschiedenen Anlageklassen zu. Vor der Jahrtausendwende konnte die Preisbewegung einer Aktie im amerikanischen Aktienindex S&P 500 zu 16% durch die Entwicklung der anderen im Index enthaltenen Werte erklärt werden. Heute ist dieser Wert mehr als doppelt so hoch. Gemäss einer Studie von Ned Davis Research, einem auf Börsenanalysen spezialisierten Unternehmen, hat sich der Erklärungswert innerhalb einer Auswahl von Anlagekategorien (Aktien, Rohwaren, Zinsen, Währungen) in der selben Zeit verzehnfacht, von 1% auf mehr als 10%. Diese Zunahme der Korrelation dürfte die Schwankungsanfälligkeit der Finanzmärkte erhöhen und die Suche der Anleger nach Alternativen verstärken.
Anlageklasse | Index | Rendite über 3 Monate, per 30.09.2016 | Rendite über 12 Monate, per 30.09.2016 |
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Aktien Welt | MSCI World Net USD | 4,87% | 11,36% |
Aktien Schweiz | Swiss Performance Index | 2,58% | 2,34% |
Obligationen Welt | JPM GBI Global Traded TR USD | 0,17% | 9,48% |
Obligationen Schweiz | Swiss Bond Index AAA-BBB TR | –0,15% | 3,65% |
Rohwaren | Thomson Reuters/Jefferies CRB TR USD | –3,17% | –3,60% |
Immobilien Schweiz | SXI Real Estate® TR CHF | 0,88% | 10,39% |
Wechselkurs EUR/CHF | 0,52% | 0,37% | |
Wechselkurs USD/CHF | –0,72% | –0,21% |
Die zunehmenden Schwankungen der Preise (Volatilität) an den Finanzmärkten wurden von unseren Risikoindikatoren gut erfasst. Die sich in den letzten Monaten ständig verändernde Risikosituation hat dazu geführt, dass unser Zielportfolio überdurchschnittlich oft gewechselt werden musste.
Aktuell halten wir ein Untergewicht in Sachwerten (Aktien, Immobilien, Rohwaren), denn die Wahrscheinlichkeit von Korrekturen der entsprechenden Marktindizes ist immer noch erhöht. Unsere beiden prospektiven Risikoindikatoren, die unser Zielportfolio bestimmen, bewegen sich zurzeit in eine entgegengesetzte Richtung. Der kurz- bis mittelfristig ausgerichtete Turbulence Index (TI) deutet an, dass bei der Sachwertquote Potenzial für eine Anhebung zum Jahresende vorhanden ist. Der überdurchschnittlich hohe Systemic Risk Index (SRI), der mittel- bis langfristig orientiert ist, sowie die fundamentale Bewertung der Märkte mahnen jedoch zur Vorsicht.
Gemäss unserer langfristigen Einschätzung sprechen heute wenige Argumente für ein Übergewicht in Aktien. Doch Übertreibungen können sehr lange andauern, und viele Anleger sind zurzeit auf der Suche nach Alternativen. Deshalb können wir uns durchaus vorstellen, dass der Aktienmarkt über das Jahresende einen «Honey Moon» erlebt. Neben dem Tina-Prinzip und saisonalen Faktoren könnten folgende Gründe dafür verantwortlich sein:
- Schweizer Banken haben die empfohlene Aktienquote für ein gemischtes Portfolio seit dem Höchstwert im Frühling 2015 fünf Mal hintereinander reduziert. Wir erwarten, dass sie im Vorfeld der amerikanischen Wahlen und der damit verbundenen Unsicherheit die Zielquote für das Schlussquartal 2016 nochmals herabsetzen werden. Die Aktienquote dürfte dann immer noch leicht über dem historischen Durchschnitt liegen, aber zum ersten Mal seit Dezember 2013 würde dieser Wert eine positive Rendite über die nächsten zwölf Monate erwarten lassen.
- Gemäss Daten der Schweizerischen Nationalbank (SNB) ist auch die effektiv gehaltene Aktienquote in den Kundendepots von Schweizer Banken seit dem Sommer 2015 rückläufig. Wir glauben nicht, dass die Quoten aktiv reduziert wurden, sondern dass die Gewichtsverschiebung hin zu Anleihen und Liquidität aufgrund der besseren relativen Performanceentwicklung von Anleihen gegenüber Aktien zustande gekommen ist. Zum Jahresende hin dürften einige Anleger feststellen, dass ihre Aktienquote trotz Tina plötzlich zu niedrig ist, was entsprechende Käufe nach sich ziehen könnte.
- Anhänger der technischen Aktienanalyse verweisen auf den guten Zustand der weltweiten Aktienindizes. Sowohl dies- und jenseits des Atlantiks als auch in Fernost notieren die Indizes über ihrem langfristigen gleitenden Durchschnitt. Das spricht aus technischer Sicht für eine Fortsetzung der steigenden Trends seit Beginn des dritten Quartals. Im traditionell schlechtesten der vier Quartale, der Zeit von Anfang Juli bis Ende September, erzielten zudem alle wichtigen Märkte eine positive Rendite.
Globale Finanzmärkte – Rückblick
(Vergleiche vorangehende Tabelle)
Aktien
Das dritte Quartal stand im Zeichen einer flächendeckenden Erholung an den globalen Aktienmärkten. Fast ohne Ausnahme legten die Aktien in Fernost unter der Führung von Hongkong (+12%) und Japan (+6%) zu. In Europa waren die Brexit-Verwerfungen von Ende Juni schnell vergessen. Der deutsche Leitindex Dax setzte sich mit einem Anstieg von 9% noch vor den englischen FTSE 100, der 6% kletterte. Der Swiss Performance Index (SPI) schloss mit einem Plus von 3% leicht hinter dem Index für die gesamte Region (MSCI Europe, +4%). Den saisonal häufigen Turbulenzen des berüchtigten Monats September konnte sich auch der amerikanische S&P 500 entziehen. Nach einem Anstieg von mehr als 3% notierte er auch zum Quartalsende nahe dem historischen Hoch von 2190 Punkten, das am 15. August erreicht worden war. Die aufstrebenden Märkte liessen sich ebenfalls nicht lange bitten, und der MSCI Emerging Markets Index avancierte in Dollar gerechnet 9%.
Obligationen
Die japanische Notenbank unterlässt keinen Versuch, die Geldmenge zu vergrössern, um die Wirtschaft anzukurbeln und die Inflation anzuheizen. Ihre neuste Massnahme – die Zinsen durch die Manipulation der Zinskurve zu beeinflussen – hat sie gegen Ende des abgelaufenen Quartals angekündigt. Seit geraumer Zeit verpuffen jedoch sämtliche expansiven Massnahmen der Notenbanken, und es überrascht deshalb nicht, dass sich die Anleihenindizes in den meisten Regionen im dritten Quartal kaum bewegt haben. In den letzten zwölf Monaten verharrten die Zinsen auf tiefem Niveau, und sowohl Frankenanleihen (+4%) als auch in Dollar denominierte, global investierende Indizes (+9%) erzielten deutliche Gewinne.
Rohwaren
Die Erholung der Rohwarenpreise seit Februar kam im dritten Quartal ins Stocken. Hauptgrund für den Marschhalt war die Konsolidierung der Ölpreise. Die Notierung der europäischen Ölsorte Brent gab gegenüber dem Schlusskurs von Ende Juni 3% nach. Positive Ausreisser stammten aus sehr unterschiedlichen Sektoren. Das Edelmetall Palladium zeigte eine Preissteigerung von 20%, der Baltic Dry Index, der Preisindex für das weltweite Verschiffen von Hauptfrachtgütern, schnellte 33% in die Höhe. Der Baltic Dry gilt als Frühindikator für den Welthandel.
Immobilien
Immobilien in England konnten mit einem Plus von 5% einen Teil des Verlustes des Vorquartals wettmachen. Noch liegen die Immobilienpreise jedoch rund 10% unter dem Vorjahresniveau. Widerstandsfähig zeigten sich amerikanische Immobilien, die trotz ihrem leichten Rückgang seit Ende Juni einen hohen Jahresgewinn von 20% halten konnten. Schweizer Immobilienfonds entschieden sich für den Mittelweg: 1% Anstieg über drei Monate, 10% Gewinn über die letzten vier Quartale.
Währungen
In England vermochte der Brexit-Entscheid im dritten Quartal nur noch die Währung in Mitleidenschaft zu ziehen. Während Aktien und Immobilien von Juli bis September avancierten, verlor das Pfund gegenüber dem Franken nochmals deutlich an Wert (–4%). Zumindest aus japanischer Sicht nicht beabsichtigt war die Fortsetzung der Yen-Stärke. Trotz der Einführung von Strafzinsen legte die japanische Valuta im dritten Quartal zu, zum Franken 2%. Eine bewegte Zwölfmonatsphase hat das für Schweizer Anleger wichtigste Trio Euro, Dollar und Franken hinter sich. Doch im Jahresvergleich notierten die jeweiligen Währungspaare Ende September wenig verändert.