Autor: Jacques Stauffer
Rückblick
Die aktuelle Inflation ist angebotsgetrieben – und stammt nicht wie sonst üblich von der Nachfrageseite. Es braucht deshalb andere Rezepte als Zinserhöhungen.
Aktien und Obligationen beendeten ein schwieriges zweites Quartal 2022 und eine der schlechtesten ersten Jahreshälften seit Jahrzehnten für Anleger. Der anhaltende Krieg in der Ukraine, explodierende Öl- und Gaspreise sowie hartnäckige Engpässe und Unterbrüche in den Lieferketten führten zur höchsten US-Inflation seit 40 Jahren und einer in der jüngeren Geschichte rekordhohen Teuerung in der Eurozone. Der Ausverkauf an den Börsen spiegelte die Stimmung und die Erwartungen der Investoren so gut wie selten.
Um die Inflation zu bekämpfen, hat die US-Notenbank FED die Leitzinsen seit März drei Mal um insgesamt 1,5 Prozentpunkte angehoben. Im Euroraum ist der erste Zinsschritt seit 2011 für den Juli angekündigt, die Schweizerische Nationalbank hat den Leitzins Mitte Juni um ein halbes Prozent angehoben. Die Begründung von SNB-Präsident Thomas Jordan: «Die straffere Geldpolitik soll verhindern, dass die Inflation in der Schweiz breiter auf Waren und Dienstleistungen übergreift.» Doch sind Zinserhöhungen das richtige Mittel gegen die aktuelle Inflation?
Entsteht Inflation in vielen Fällen durch zu viel «billiges» Geld, eine starke Nachfrage und/oder Lohn-Preis-Spiralen, ist die jetzige Teuerung praktisch vollständig angebotsgetrieben. Einerseits schnellten die Energiepreise in Erwartung eines zu knappen Angebots im Winter schon jetzt in die Höhe, und die «Werkbank» China hat wegen der harten Lockdowns massive Lieferschwierigkeiten. Andererseits sind Konsumenten voll pandemiebedingt aufgestauter Kauffreudigkeit. Aber viele Unternehmen können weder produzieren noch liefern.
Zinserhöhungen allein können das stotternde Angebot nicht zum Laufen bringen und die Lieferkettenprobleme nicht beheben. Es sind neue Rezepte zur Bekämpfung der Inflation respektive zur Ausweitung des Angebots gefragt. Dazu gehören:
- Hilfe für Unternehmen in Branchen mit massiven Produktionsproblemen
- Förderung von Regionalisierung und kurzen Lieferketten
- Unterstützung von lokaler Innovation
- Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen Universitäten und Wirtschaft
Doch diese Massnahmen brauchen eine Weile, bis sie ihre Wirkung entfalten können. Die chinesische Wirtschaft wird sich im Laufe der Zeit zwar wieder normalisieren, die Inflation wird sich zurückbilden. Die Zinsschritte der Notenbanken sind im aktuellen Umfeld jedoch kontraproduktiv und fehl am Platz, weil dadurch keine Stimulierung des fehlenden Angebots erzielt wird, im Gegenteil. Die Zinserhöhungen führen zu einer weiteren Verknappung des Angebots und sind für von Lieferkettenausfällen und den vielschichtigen, disruptiven Folgen des Kriegs gebeutelten, schwächeren Wirtschaften eine zusätzliche grosse Belastung.
Junge, dynamische Wirtschaften mit einem starken, innovativen Technologiesektor und multikultureller, vielfältiger Gesellschaftsstruktur haben ein vorteilhaftes Profil, um die anstehenden Herausforderungen zu meistern. Ältere Wirtschaftsräume können dies hingegen nicht. Sie verfügen nicht über die dazu notwendige Flexibilität und Innovationskraft, und die Bereitschaft der Bevölkerung, Opfer zu bringen, ist gering.
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von Standard. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf den Button unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Ausblick
Die Wirtschaft wird auf die Probe gestellt
Die breite und tiefe Korrektur an den Finanzmärkten kann noch eine Weile andauern, aber die Marktprämissen werden sich in den kommenden Monaten verbessern. Die Notenbanken werden ihre restriktive Haltung überdenken – oder gar revidieren – müssen, weil sie ihre Ziele damit nicht erreichen können. Die Börsen dürften eine moderatere Straffung der Geldpolitik zu schätzen wissen und sich erholen.
Wie geht es weiter? Für einmal dürften die aktuellen Gewinner – also die Titel, die in den vergangenen Wochen und Monaten weniger Verluste als andere hinnehmen mussten – auch die künftigen Gewinner sein. Die im aktuellen Szenario prosperierenden Branchen wurden an dieser Stelle schon verschiedentlich genannt:
• Rohstoffproduzenten
• Erdöl – Erdölunternehmen
• alternative Energien – Clean Energy – Cleantech
• zinssensitive, unterbewertete Finanzunternehmen – Banken und Versicherungen
• zukunftsorientierte Unternehmen mit klarer Leaderposition in disruptiven Industrien
Wir favorisieren die beiden Faktoren (Styles) Value und Low Risk, die das Potenzial für eine überdurchschnittlich gute Wertentwicklung haben. Wachstums- und Qualitätstitel hingegen sind in der heutigen Phase von den Angebotsengpässen besonders stark betroffen. Auch in Bezug auf den Faktor Momentum ist zurzeit Vorsicht geboten, da sich solche Titel in Umwälzungsphasen nur bedingt eignen.
Einmal mehr möchten wir darauf hinweisen, dass nur grosse Infrastrukturinvestitionen in alternative Energien (Sonnenenergie, Windenergie, Wasserenergie und Wasserstoff) die Energiepreisinflation dämmen können. Der jüngste Preisschock zeigt eindrücklich, wie gross die Kapazitäts- und Versorgungslücken noch sind – und welcher Handlungsbedarf in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zwingend besteht.
Risikoindikatoren
Unser Risikoindikator, der Global Systemic Risk Indicator (Global SRI), hat sich seit dem Frühjahr 2021 auf tiefem Niveau seitwärts bewegt und ist im März 2022 nochmals deutlich gesunken, was robuste Märkte signalisierte – eine Einschätzung, die nicht zutraf. Von April bis Juni ist der Global SRI deutlich angestiegen, befindet sich jedoch immer noch auf einem Wert, der niedrige systemische Risiken an den Kapitalmärkten anzeigt. Die Wahrscheinlichkeit einer noch akzentuierteren Verwerfung ist als gering einzustufen. Wir erwarten eine Erholung der Aktienmärkte, und es dürfte sich in den nächsten Monaten lohnen, das mit Aktienengagements einhergehende Risiko einzugehen. Solange der SRI nicht auf einen Wert von über –1 ansteigt, sollte an einem Übergewicht an Sachwerten festgehalten werden. Bei einem Niveau von über +1 wäre ein Untergewicht an Sachwerten angezeigt.
Der Global SRI stellt die gewichtete Kombination der drei regionalen SRI (USA, Europa, Asien-Pazifik) dar. Im Vergleich zum ersten Quartal 2022 hat sich das Bild umgekehrt: Der Blick auf die Kontinente zeigt einen leicht steigenden Risikoindikator für Europa, und einen stark steigenden für Amerika – ein zur wirtschaftlichen Lage kongruentes Bild, das die systemischen Risiken in Zusammenhang mit der Inflations- und Energiepreisentwicklung spiegelt. Aus dem Rahmen fällt der leicht sinkende SRI in Asien. Insgesamt haben sich die im ersten Quartal auseinanderdriftenden regionalen Risikoindikatoren wieder angenähert.
Globale Finanzmärkte - Rückblick Januar bis Juni 2022
Aktien
Die Aktienmärkte blicken auf düstere sechs Monate zurück; in den USA zeigten Aktien gar die schlechteste Halbjahresperformance seit 1970. In Amerika belasteten die rekordhohe Inflation, Bedenken über das Tempo der geldpolitischen Straffung und Sorgen über die Konsumausgaben die Stimmung der Investoren. In der Eurozone sind Ängste über ausfallende Gaslieferungen aus Russland ein Grund zur Besorgnis, dies vor allem in Deutschland, wo die Schwerindustrie auf Gas aus Russland angewiesen ist. Der Weltaktienindex MSCI World schloss das erste Halbjahr mit einem Minus von 20,51% (in Franken –16,47%), der SPI verlor 15,87%. Schwellenlandaktien gemessen am MSCI Emerging Markets verzeichneten ebenfalls Abgaben und notierten Ende Juni –17,63% (in Franken –13,45%) tiefer als Anfang Januar. In Franken rechnende Anleger erzielten bei in Dollar denominierten Valoren deutliche Währungsgewinne, respektive währungsbedingt geringere Verluste.
Obligationen
Festverzinsliche Wertpapiere setzten ihre schwache Performance des ersten Quartals auch im zweiten Quartal 2022 fort. Das lange angekündigte, neue Zinsregime wurde Realität: Das Fed erhöhte den Leitzins Mitte März um 0,25%, Anfang Mai um 0,50% und Mitte Juni um 0,75%. Im Euroraum sind die Zinsen noch unverändert, aber die EZB hat eine erste Anhebung auf Ende Juli angekündigt, und die Anleihenkaufprogramme sollen eingestellt werden. Die Schweizerische Nationalbank überraschte am 16. Juni mit einem Zinsschritt von 0,50%. In der Folge dieser Notenbankaktionen erlitten Obligationen mit Anlagequalität deutliche Verluste. Der weltweit investierte Index von JP Morgan verlor von Januar bis Juni 14,14% an Wert (in Franken –9,78%). Frankenanleihen mit einer Bonität zwischen BBB und AAA gaben mit einer Negativrendite von –10,20% ebenfalls nach.
Rohwaren
Die Rohwarenmärkte standen im ersten Halbjahr 2022 im Banne des Kriegs in der Ukraine, wobei sich die Notierungen im zweiten Quartal auf hohem Niveau festigten. Der breit gefasste Rohwarenindex CRB kletterte seit Anfang Jahr 25,73% (in Franken 32,10%) in die Höhe, angetrieben von den explodieren Rohöl- und Gasnotierungen. Der Preis für ein Fass Rohöl der europäischen Sorte Brent stieg von Januar bis Juni um mehr als 40%, die Notierung für Erdgas avancierte 50%. Kostete eine Feinunze Gold Ende Februar 2070 Dollar, so waren es Ende Juni nur noch rund 1820 Dollar, und die Notierung befindet sich auf dem Niveau des Jahresbeginns. Dem edlen Metall zu schaffen machten die jüngsten gelpolitischen Entscheide, steigenden Zinsen sind Gift für den Goldpreis. Rohstoffe waren im ersten und im zweiten Quartal 2022 die einzige Anlageklasse, die über alle Sektoren hinweg eine positive Performance zeigte.
Immobilien
Auch in Immobilien investierte Wertpapiere erlitten im ersten Halbjahr 2022 deutliche Abgaben, ausgelöst von der geopolitischen Lage, wirtschaftlichen Unsicherheiten, Inflationsängsten und den markanten Zinsschritten der Notenbanken. In den physischen Immobilienmärkten ist jedoch trotz beginnender geldpolitischer Normalisierung noch keine Schwäche zu erkennen. Ausländische Immobilienanlagen gaben von Januar bis Juni 19,60% nach (in Franken –15,52%). Schweizer Immobilien gemessen am SXI Real Estate Funds Index verloren seit Anfang Jahr 14,88% an Wert.
Währungen
Das in vielerlei Hinsicht schwierige erste Halbjahr und die erwähnten makroökonomischen und geopolitischen Faktoren hinterliessen auch an den Devisenmärkten deutliche Spuren. Seit Anfang Jahr festigte sich der Dollar gegenüber dem Franken 6,03%. Gegenüber dem Euro stand der Franken unter Aufwertungsdruck, was durch die Zinserhöhung der SNB akzentuiert wurde: Die für die Schweizer Wirtschaft so wichtige Einheitswährung setzte ihre Schwächephase fort und gab zum Franken 4,21% nach; Anfang März und Ende Juni fiel der Euro zum Franken gar auf respektive unter Parität. Gegenüber dem Greenback verlor der Euro im ersten Halbjahr 2022 um 9,65%.