Eine etwas andere Einschätzung des Brexit
Europa hat es sich noch nie einfach gemacht. Das Vereinte Königreich sorgt nun dafür, dass dies auch so bleibt, und das erschüttert die Finanzwelt. Ist der Leidensweg von Europa respektive der Europäischen Union bald zu Ende, oder hat er erst begonnen?
Die britische Währung und der Aktienmarkt haben auf unmissverständliche Art und Weise auf den Austritt aus der Europäischen Union (EU) reagiert. Barclays gab noch am Tag des Entscheids des Souveräns einen Abzug von 2000 Arbeitsplätzen von London nach Dublin und Frankfurt bekannt. Unsicherheit dominiert das Land und die Finanzindustrie.
Kurzfristige Entwicklungen dürfen uns aber nicht zu sehr beeindrucken, denn die mehrheitlich negativen Reaktionen auf den Brexit müssen differenziert betrachtet werden:
- Grossbritannien ist wichtig. Das Land ist nach Deutschland die zweitgrösste Wirtschaft der EU und nunmehr die sechstgrösste der Welt. Der Austritt ist unbestritten ein grosser Verlust für das Projekt EU – aber im globalen Kontext wird sich die Wirtschaftsmacht Grossbritannien nicht auflösen sondern weiterhin bestehen bleiben.
- Das Austrittsvotum steht einem klaren Verdikt Schottlands und Nordirlands zu Gunsten der EU gegenüber. Das könnte den Bruch des Vereinigten Königreichs und somit den Wiedereintritt dieser beiden Länder in die EU bedeuten; der Verlust würde gemindert werden.
- Für einen Verbleib in der EU stimmten meist junge und gut ausgebildete Briten. Ihre Ausbildung, berufliche Auslanderfahrung, Flexibilität betreffend Studium, Austausch mit den Nachbarländern und ihr Streben nach Innovation haben diese Wähler pro EU stimmen lassen. Sie zu vertreten und den Wandel von einer «Old Economy» zu einer «New Economy» voranzutreiben, ist und bleibt die Hauptaufgabe ganz Europas. Staaten, welche diese zukunftsorientierten Veränderungen nicht angehen oder gar bekämpfen, geraten ins Hintertreffen – auch wenn sie in der EU sind.
- Die Mehrzahl der Briten hat sich nun gegen das Gemeinschaftsprojekt der Modernisierung entschieden. Andere EU-Länder hadern damit, den Preis für die Einheit zu bezahlen – die Einheit, die eine gemeinsame Interessensvertretung gegenüber Grossstaaten wie China, USA und Russland ermöglicht. Der Fall Grossbritannien wird diese Länder möglicherweise daran erinnern, dass Europa eben doch eine Errungenschaft ist.
- Die EU muss vieles besser machen, aber die Staatengemeinschaft macht auch einiges richtig. Manchmal handelt sie über-eifrig und häufig ineffizient. Sie muss die wirtschaftliche und gesellschaftliche Transformation konsequent fördern und die eigene Zukunft definieren. Das Vereinte Königreich macht den Eindruck, Vergangenes zurückerobern aber gleichzeitig die Vorteile der Gegenwart nicht verlieren zu wollen. Doch ohne gültige bilaterale Verträge mit der EU ist das nicht realistisch und ein Abenteuer. Die Brexit-Abstimmung zeigt auch auf, dass das Projekt EU zu einer Selektion führt.
- Vielleicht erhalten andere Souveräne Europas vor Augen geführt, dass Emotionen kein guter Ratgeber sind. Sie können dazu führen, dass Opposition plötzlich zu Verantwortung wird. Und Verantwortung wahrzunehmen ist ungleich schwieriger.
- Deutschland wird künftig noch mehr Mühe bekunden, die EU auf einen Sparkurs zu lenken, da es mit Grossbritannien einen wichtigen Verbündeten verloren hat. Vor allem die peripheren Länder, aber auch Frankreich, dürften sich zunehmend für eine Lockerung des von Deutschland angeführten, stringenten Austeritätskurses einsetzen. Ein solcher fiskalpolitischer Richtungswechsel könnte durchaus auch positive Seiten haben, zumal die expansive Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) bislang noch nicht zu einer Erholung der europäischen Konjunktur geführt hat (Liquiditätsfalle).
Manche Stimmen sagen: «Die EU hat die Quittung für ihre Politik der letzten Jahre erhalten. Es ist höchste Zeit, dass die Verantwortlichen in Brüssel die Bürger in den Entscheidungsprozess miteinbeziehen.» Die Politiker müssen tatsächlich neue und bessere Antworten finden. Es gibt keinen Grund, die Austrittsverhandlungen mit Grossbritannien überhastet anzugehen. Doch um diese komplexen Verhandlungen zu führen, bedarf es einer handlungsfähigen britischen Regierung. Die Hoffnung ist, dass Brüssel den Ernst der Lage erkennt und die richtigen Schlüsse zieht. Die Neuorientierung der EU muss gut durchdacht sein und sie muss die Bürger überzeugen. Dies ist Europas Chance, und das stimmt uns positiv.
Einschätzung der Aktienmärkte
Gemäss unserem «Systemic Risk Indicator» haben die Aktienmärkte zurzeit die Kraft, die vom Brexit verursachte Unsicherheit zu absorbieren und die mehrheitlich negative Berichterstattung zu relativieren. Zwar sind unmittelbar keine weiteren markanten Rückschläge zu erwarten, es muss jedoch mit erhöhter Turbulenz gerechnet werden.
Wir gehen davon aus, dass sich die Anleger in Aktien noch defensiver positionieren werden. Qualitätstitel mit vernünftiger Bewertung und niedriger Volatilität (z.B. im Sektor Basiskonsumgüter), Aktien mit nachhaltiger Dividendenausschüttung werden weiterhin gesucht sein. In Bezug auf die Region dürften die USA, die Schweiz (beim aktuellen Euro-Franken-Kurs) und die Emerging Markets in der Gunst der Anleger stehen. Europa hat zwischenzeitlich eine attraktive, tiefe Bewertung die für Engagements in den kommenden Monaten genutzt werden könnte.
Nach wie vor haben alle Investoren das Problem, dass es keine attraktiven Alternativen zu Aktien gibt – und das dürfte noch längere Zeit der Fall sein. Dem Korrekturpotential der Aktienmärkte sind somit Grenzen gesetzt.
Wir hoffen, Ihnen mit diesen Gedanken zu dienen und freuen uns auf angeregte Diskussionen.