Dr. Niklaus Meyer, Head Research PARSUMO Capital AG:
«Tausend weisse Schwäne reichen nicht, um zu beweisen, dass alle Schwäne weiss sind. Aber ein schwarzer Schwan reicht als Beweis, dass sie es nicht sind.»
In unserem sporadisch erscheinenden Bericht «Aktuelle Marktlage aus Sicht des Risikomanagements» kommentieren wir die relevanten Veränderungen der Risikoverhältnisse an den Kapitalmärkten und greifen Themen aus dem Risikomanagement auf.
Das erste Halbjahr 2015 ist bereits wieder Geschichte und hat Geschichte geschrieben. Im Januar hat die Schweizerische Nationalbank (SNB) die Untergrenze des Euros zum Franken aufgehoben und interveniert seither nur noch sporadisch. Die US-Notenbank Fed spielte schon Ende letzten Jahres mit dem Gedanken, endlich die Zinsen zu erhöhen, da einige der relevanten Wirtschaftsindikatoren in den grünen Bereich zurückgekehrt waren. Doch die Bedingungen für eine Zinserhöhung – unter anderem das von der Fed-Vorsitzenden Janet Yellen gesetzte Inflationsziel von 2% – sind noch nicht erfüllt, und die Notenbank musste jüngst ihre Wachstumsprognosen für die USA erneut zurücknehmen. Dazu kommt, dass die griechische Schuldentragödie kein Ende findet und die Märkte noch länger verunsichern dürfte, obschon bereits eine gewisse Abstumpfung festzustellen ist. Wir werfen in diesem Artikel einen Blick auf die Derivatmärkte und ihre aktuelle Positionierung. Wir stellen uns die Frage, ob wir dadurch neue und wertvolle, prospektive Erkenntnisse für eine bessere Einschätzung des Risikos an den Märkten erhalten.
Black-Scholes: Modell mit vielen Annahmen
Eigentlich ist die Finanzwelt ganz einfach. Jedermann hat jederzeit unbeschränkt Zugang zu allen relevanten Informationen. Wertpapiere sind unendlich liquide, und selbst für Leerverkäufe stehen Leihpapiere in unbeschränkter Menge zur Verfügung. Der Handel ist rund um die Uhr garantiert, und es gibt keine Preissprünge, sondern nur ein monotones Steigen und Fallen. Die Preisveränderungen sind stochastisch, das heisst, sie sind zufällig und folgen weder einem Muster, noch werden sie von den Notierungen der Vortage beeinflusst. Die Zinsen sind für alle gleich und konstant, und natürlich existiert keine Geld-Brief-Spanne. Aber das Beste ist, dass alle Marktteilnehmer rational entscheiden, Emotionen gehören in die Freizeit.
Welchem Märchen diese Welt wohl entsprungen ist? Nun, die Frage ist berechtigt, aber wichtiger ist, dass die Erfinder dieser Traumwelt dafür 24 Jahre später den Nobelpreis für Wirtschaft erhielten.
Die Wirtschaftswissenschaftler Fischer Black, Myron Scholes und Robert Merton fanden 1973 die mathematische Formel zur Berechnung von Optionspreisen (Call- und Put-Optionen). Dazu mussten sie die soeben beschriebenen Annahmen treffen – denn nur so konnten sie eine relativ einfache Lösung finden. Diese ist bis heute der internationale Standard im Derivathandel. Im Laufe der Jahre wurde eine schier unendliche Zahl an Variationen der Formel vorgeschlagen, die zum Teil auch angewendet werden. Geht es jedoch um ein spezifisches Geschäft und um die Zahlung einer Prämie, dann wird auch heute noch das sogenannte Black-Scholes-Modell zur Berechnung des Optionspreises benutzt.
In der Black-Scholes-Gleichung stecken einige Variablen. Die meisten sind hinlänglich bekannt: der Preis des Wertpapiers, die Dividendenrendite, der Zins der entsprechenden Währung sowie die Laufzeit und der Ausübungskurs (Strike). Zusätzlich ist auch die Volatilität (Schwankungsbreite der Kurse oder Risiko) massgeblich verantwortlich für den Optionspreis: Je höher die Volatilität, desto höher die Prämie (Preis). Der Optionspreis ist also eine Funktion der Volatilität. Da eine Option als Absicherungsgeschäft mit begrenztem Verlust (in der Höhe der maximal eingesetzten Prämie) betrachtet werden kann, ergibt sich folgender Umkehrschluss: Die Volatilität muss ein Mass für das vom Markt geschätzte Risiko sein. Wie bei einer Versicherung muss für ein höheres Risiko eine höhere Prämie bezahlt werden.
Diese Volatilität wird als implizite Volatilität bezeichnet. (Im Gegensatz dazu gibt es auch die historische Volatilität, die aus den effektiv realisierten Daten der Vergangenheit berechnet wird.) Die implizite Volatilität schaut somit in die Zukunft. Aber ist sie auch ein prospektives Mass für die zukünftige Entwicklung der Wertpapierkurse?
Skew: Da ist etwas schief
Die Welt ist nicht perfekt. Das zeigt sich darin, dass die implizite Volatilität nicht konstant ist. Tatsächlich gibt es unterschiedliche Werte für die implizite Volatilität, je nachdem, ob es sich um eine Call-Option (Annahme steigender Märkte) oder eine Put-Option (Annahme fallender Märkte) handelt.
Als konkretes Beispiel nehmen wir den Volatilitätsindex VIX. Er erfasst die implizite Schwankungsbreite der Titel des amerikanischen Aktienindex S&P 500. Steigt der VIX, dann bedeutet das, dass am Markt höhere Prämien für Optionen (Call oder Put) bezahlt werden. Das heisst, die Marktteilnehmer sind bereit, höhere Prämien zu bezahlen, um sich gegen Kursrückschläge zu versichern. Sinkt der VIX, ist das Gegenteil der Fall.
In einem Artikel vom Januar 2015 sind wir bereits auf die Prognosefähigkeit der impliziten Volatilität eingegangen. Es stellte sich heraus, dass der VIX für sich allein keine Prognosefähigkeit besitzt. Tatsächlich braucht es dazu weitere Eigenschaften wie zum Beispiel die Korrelation (statistische Abhängigkeit) zwischen den einzelnen Wertpapieren. Nur unter Einbezug der Korrelation erhalten wir ein Mass für künftige Veränderungen, das wir Turbulenz nennen.
Eine wichtige vorausschauende Information fehlt jedoch beim VIX. Er enthält keinerlei Information darüber, ob mehr Call-Optionen oder Put-Optionen nachgefragt werden. Es kann also sein, dass am Markt sehr viele Put-Optionen (Absicherungsgeschäfte gegen fallende Kurse) gekauft und gleichzeitig Call-Optionen verkauft werden, sodass sich der VIX nicht bewegt. Trotzdem herrscht rege Aktivität.
Es kann auch sein, dass viele Investoren gleichzeitig bereit sind eine Risikoprämie zu bezahlen, um sich gegen grössere Verwerfungen (Fat Tails) abzusichern, und der VIX trotzdem nicht dramatisch reagiert – obwohl sich die systemischen Risiken stark erhöhen. Der Fachausdruck für diesen Effekt heisst Skew (engl.: Schiefe). Die Skew misst die Differenz zwischen den impliziten Volatilitäten von Put-Optionen und Call-Optionen und hat unter gewissen Umständen, im Gegensatz zum VIX selbst, einen prospektiven Charakter.
Schwarze Schwäne oder was eben doch sein kann
Die Skew im S&P 500 Index ist meist negativ. Das bedeutet, dass Investoren generell bereit sind, eine höhere Prämie zu bezahlen, um sich gegen Kursverluste abzusichern (Put-Optionen), als für eine Wette auf steigende Kurse (Call-Optionen). Seit dem Börsencrash im Oktober 1987 war die Skew des S&P 500 nie mehr positiv.
Die Grösse der Skew schwankt jedoch. An der weltgrössten Optionenbörse CBOE in Chicago wird die Skew des VIX jeden Tag berechnet. Eine neutrale Skew im S&P-Volatilitätsindex VIX einstspricht einem Wert von 100 im CBOE Skew Index (SKEW). Werte von über 100 bedeuten, dass Put-Volatilitäten höher sind als Call-Volatilitäten (negative Skew) und umgekehrt. In den letzten 25 Jahren handelte der SKEW nie unter 100, er pendelte zwischen 101 und 147.
Hohe Skew-Werte bedeuten, dass die Marktteilnehmer das Risiko eines kurz bevorstehenden Markteinbruchs als hoch betrachten. Die Risikoprämien für Put-Optionen steigen. Der SKEW erreichte im Juni 1990, im Oktober 1998, im März 2006 sowie im Mai 2014 Höchststände von über 140. Bei solch extremen Werten nimmt die Wahrscheinlichkeit von negativen Bewegungen markant zu, die systemischen Risiken steigen.
Vom Philosophen Karl R. Popper stammt die Erkenntnis: «Ein empirisch-wissenschaftliches System muss an der Erfahrung scheitern können.» Trotzdem ist unser Ziel, prospektive Aussagen über die Kapitalmärkte zu machen. Dazu ist die Volatilität – zum Beispiel in Form des VIX – grundsätzlich nicht in der Lage. Sie beschreibt den Ist-Zustand. Die Skew geht einen Schritt weiter und gibt Auskunft über die Verletzlichkeit des Ist-Zustands. Sie enthält unter Umständen Informationen über das systemische Risiko im Markt. Wir beobachten sie sehr genau.
Der SKEW handelt aktuell zu 123 (Stand 15. Juli 2015). Das deutet auf eine relativ geringe Wahrscheinlichkeit eines kurz bevorstehenden Crashs. Der schwarze Schwan ist sehr selten. Aber es gibt ihn.